Erinnerungsdiamant

Im Oktober 2012 verlor ich meine Mutter. Sie war mein Fels, mein Vor- wie Ebenbild. Manche sagen wir waren 1:1, sie eben nur knapp 40 Jahre älter als ich. Unsere Stimmen waren am Telefon kaum unterscheidbar, und rein optisch würden wir als Zwillinge durchgehen, wenn man Bilder von uns im gleichen Alter nebeneinander legt. Manchmal war es erschreckend, wie ähnlich wir uns waren. So ähnlich, dass ich die Sätze, die sie begann, beenden konnte. Ja, manchmal ging es so weit, dass ich Mono-Dialoge zwischen mir und meiner Mutter führte. Dann lachten wir uns scheckig über unsere Ähnlichkeit.

Im Mai 2008 verstummte dieses Lachen. Zumindest auf ihrer Seite. Sie erlitt im Rahmen einer Hüftoperation einen schweren Schlaganfall. Sie war rechtsseitig vollständig gelähmt, konnte nicht mehr sprechen, nicht mehr schlucken. Ich fand in dem Krankenhaus, in dem es passiert war, einen Haufen Mensch vor. Ein Haufen Mensch, der an unendlich vielen Schläuchen und Kabeln hing: Beatmung, Pulskontrolle, Tropf, Ernährungssonde vorerst durch die Nase, doch diesen zog sie sich instinktiv immer wieder, mit ihrer noch funktionstüchtigen Hand. So bekam sie letztlich eine Magensonde gelegt. Ein Haufen Mensch — nicht mehr. Meine Mutter — das was sie ausmachte — war damals bereits gestorben.

In einer langen ReHa-Zeit von fast 5 Monaten wurde ein neuer Mensch geboren. Auch wir lernten in dieser Zeit mit der Situation umzugehen, wie auch den pflegerischen Umgang. Mit einem unendlichen Überlebenswillen ausgestattet, schaffte es meine Mutter bei Ihrer Entlassung wieder mehrere Stunden rollstuhlfähig zu sein. Vor allem konnte sie wieder alles essen — die einzige Lebensqualität die ihr wirklich täglich möglich war.

Liebevoll nahmen wir den neuen Menschen bei uns zu Hause auf. Wir pflegten sie und versuchten ihr jeden Wunsch, der noch im Rahmen ihrer wie unserer Möglichkeiten lag, von den Augen abzulesen und zu erfüllen. Wir hatten die Chance noch einige wunderbare Stunden gemeinsam zu erleben. Qualitätszeit, die ich nicht missen möchte. Wir konnten am Rhein die Schiffe oder über uns die vielen Flugzeuge beobachten. Wir konnten gemeinsam mit einer speziellen Technik aufstehen und sie ins Auto setzen, was uns echte kleine Ausflüge ermöglichte. Wir waren auf dem Lülsdorfer Karnevalslszug, auf Pützchens Markt, auf dem Siegburger Weihnachtsmarkt und machten gemeinsam den ein oder anderen rollstuhltauglichen Cache.

Zwar konnte ich ihre Sätze nun nicht mehr beenden, denn Ihre Sätze waren aufgrund der Aphasie nur noch Tüt-Tü. Sie zu verstehen war schier unmöglich. Doch da wir uns so ähnlich waren, konnte ich viele Dinge erahnen, erspüren, fühlen, und sie dann fragen ob sie dies oder jenes meine. Überglücklich waren wir, als sie mir freudig nickend zustimmen konnte. Doch viel öfter waren wir traurig darüber, dass wir — teilweise nach Stunden des immer wiederkehrenden Fragens und Fragebereicheingrenzens nicht hinter ihre Wünsche kamen. Traurig gemeinsam mit ihr, denn im Kopf war sie völlig klar.

In dieser Zeit der Intensiv-Pflege lernte ich meine Mutter von einer neuen, ganz anderen Seite ihres Seins kennen. Sie war ein Mensch, der immer Mitten im Leben stand. Reise- und unternehmungslustig, durch und durch Geschäftsfrau. Und nun lag sie da: bewegungs-, handlungs- und sprachunfähig. Ich habe sie für die immense Geduld, die sie mit uns hatte, bewundert.

Probier doch einfach mal aus, Deinem Partner gegen 15:30 Uhr mitzuteilen, dass Du zum Abendbrot Tatar aufs Brot haben möchtest. Du darfst dabei aber nur Tüt-Tü in den unterschiedlichsten Tonlagen benutzen. Dein Partner muss anhand von gezielten Fragen erkennen, was Du ihm mitteilen willst. Du wirst sehen, es kann tatsächlich bis zum Abendbrot dauern dahinter zu kommen. Und selbst dann wirst Du nicht ergründen können, ob es wirklich das war, was Du ihm mitteilen wolltest, oder ob die Zustimmung zum Tartar-Brot nur die Resignation darüber ist, dass Du immer noch nicht die Frage gestellt hast, die Deinen Partner dazu bringt spazieren gehen zu dürfen.

Diese 4½ Jahre haben mich gelehrt, dass es uns nicht weiterbringt über die Situation zu verzweifeln. Jedoch bezweifele ich stark, selbige Geduld an den Tag zu legen, sollte es mir einst selbst so gehen. Ich könnte mir vorstellen, deutlich eher zu verzweifeln, wütend zu werden, zu resignieren… Ich bewunderte meine Mutter für diese Geduld.

Das Jahr 2012 war schwer für meine Mutter. Sie war nicht mehr rollstuhlfähig, aß kaum noch, litt unter immensen Schmerzen und verbrachte den ganzen Tag im Bett. Zuletzt schlief sie fast nur noch und das Ende zeichnete sich seit Mitte September immer mehr ab. Sie Anfang Oktober letztlich gehen lassen zu dürfen, empfand sowohl ich wie auch mein Vater als Gnade Gottes und wir danken ihm, dass sie nun nicht mehr derart leiden muss.

Nun stand die Frage im Raum, was mit dem Körper meiner Mutter passieren soll. Als sie noch fit war, gab es diesbezüglich klare Anweisungen. In unserer Familie gab es keine Tabu-Themen und auch das Thema Tod wurde und wird offen diskutiert. Diesen Anweisungen konnte ich jedoch nicht Folge leisten, da es für mich logistisch unmöglich ist, eine Grabstätte in 500 km Entfernung würdig zu pflegen. Hier in meiner Nähe wollte ich sie aber auch nicht beerdigen. Bei dem bloßen Gedanken, sie in eine Erde zu geben, mit der sie nicht verwurzelt ist — wir hatten sie nach dem Schlaganfall ja aus deren und meiner alten Heimat verschleppt, um sie pflegen zu können — ließ mich erschaudern.

Da fiel mir ein Gespräch ein, was ich vor mehr als 6 Jahren mit meinem Vater führte, in dem er mir damals davon berichtete, dass es eine Möglichkeit in der Schweiz gäbe aus der Asche eines Verstorbenen einen Diamanten zu fertigen. Diese Idee hatte meine Mutter damals fasziniert und begeistert. Sobald ich mich an diese Idee erinnerte googelte ich und fand tatsächlich das Schweizer Unternehmen algordanza. Ich setzte mich mit denen in Verbindung und tatsächlich ist es inzwischen auch für Deutsche möglich, die Form der Diamantbestattung zu nutzen.

Meine Mutter wird nun zu einem Diamanten. Sie wird einen würdigen Platz an der Seite meines Vaters bekommen. Wir können sie überall dahin mitnehmen, wo wir sie gerne dabei haben wollen. Ein Diamant ist unvergänglich und so werden auch meine Kinder, Enkelkinder und alle weiteren Nachkommen noch etwas von Oma Steffi haben. Sie ist nicht nur in unseren Herzen noch da sondern, wird immer unter uns sein. Für den ein oder anderen mag diese Vorstellung erst mal befremdlich klingen. Für meinen Vater und mich ist diese liebe- und respektvolle Form der Unvergänglichkeit unendlich tröstend.

6 Gedanken zu “Ein Diamant ist unvergänglich

  1. Liebe Freya, aus diesen Zeilen ist die tiefe Verbundenheit zu Deiner Mutter geradezu greifbar ersichtlich. Die geschilderte Leidenszeit und auch die „Qualitätszeit“ – das erinnert mich sehr stark an den langen langen Abschied von meiner geliebten Frau. Die Lösung mit dem Diamanten den Ihr gefundet habt, ich finde das keine Frage ob das so mancher befremdlich findet – in Eurem Falle ist das eine ganz vorzügliche und irgendwie auch pragmatische Lösung. Meine persönliche Anmerkung/Erfahrung zum Schluß: in welcher Form auch immer, unsere lieben Vorweggegangenen sind immer und stets „irgendwie“ bei uns, erklären kann ich es nicht, ich fühle es aber sehr deutlich.
    Ich grüße auf das Herzlichste und wünsche Alle dem Tempel Verbundenden bei allem was sie tun viel Segen, Gerd P.

  2. Lieber Gerd, ich danke Dir für Deine lieben Worte. Ja, einen geliebten Menschen zu verlieren ist für die Hinterbliebenen nie leicht. Doch mir zeigen gerade solche Augenblicke des „Abschieds für immer“, ganz deutlich, wie wichtig es ist, die Zeit, die wir zur Verfügung haben zu nutzen! Jeder Tag ist ein Geschenk! Lass es und auspacken und würdigen – genau das ist TANTRA. In tiefer Verbundenheit Freya

  3. Heute durfte ich meine Mutter abholen. Sie ist wunderschön geworden. Einzigartig – wie sie bereits zu Lebzeiten war. Als mir der Diamant ausgehändigt wurde, erhielt ich 2 Zertifikate. Eines über den Diamanten selbst und ein anderes mit japanischen Schriftzeichen. Dies irritierte mich ein wenig und ich ließ den Bestatter nachhören, was es damit auf sich habe. Mir wurde erklärt, dass die Gravur des Diamanten in Japan gemacht wurde. So hat meine im Leben so reiselustig Mutter, nun im Tod sogar noch Japan besuchen dürfen. Die Tränen der Rührung rollten über meine Wangen. Ich bin glücklich, mich für diesen Bestattungsweg entschieden zu haben.

    Jetzt in diesem Augenblick ruht sie in ihrem wundervollen, würdigen Kästchen neben mir und es ist, als schaue sie mir beim Schreiben dieser Zeilen zu. Ich bin ihr ganz nah.

  4. Heute hat meine Ma ihren Weg auf „die andere Seite“ angetreten. :‘-(

  5. Lieber Gerd, lass Dich sanft und liebevoll aus der Ferne in die Arme schließen. Tränen dürfen sein. Es gibt Zeiten in denen Tränen sogar enorm wichtig sind. Lass Deine Gefühle zu, sie machen uns zu Menschen. Ich fühle mit Dir. Wenn Du magst, so schließe Deine Augen und vielleicht empfindest Du die Nähe zu Deiner Ma gerade jetzt besonders stark. Wenn Du magst können wir gerne reden, oder auch schweigen….Du weißt wie Du mich erreichst. In tiefer Verbundenheit Freya

  6. Liebe Freya, was du schreibst und wie du es schreibst, bist genau du, so wie ich dich kennenlernen durfte im April 2013. Es ist ein großes Geschenk, wenn man das Glück hatte, mit seiner Mutter so verbunden gewesen sein zu dürfen, aber man vermisst diese Verbundenheit dann auch sehr, wenn man allein zurückbleibt. Gerade in der vergangenen Woche habe ich meine Mutti besucht, denn sie hatte Geburtstag, sie ist kein Diamant, sie liegt in einem schönen Grab auf unserem Westfriedhof, der mehr ein Park ist. Sie ist nun schon fast 17 Jahre tot und diese schöne Möglichkeit gab es damals noch nicht oder sie war mir zumindest nicht bekannt.
    Auch wünsche ich dir alles Gute, werde schnell wieder gesund, ich hoffe, es ist nichts Schlimmes, Ernstes, was deinen Krankenhausaufenthalt verursacht hat…ich denke an dich, an euch…sehr oft, auch wenn ich mich selten melde. Ihr seid wertvolle Menschen, die viel geben! Alles Liebe! Eure Katrin aus Magdeburg

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